Demenz – Das Schreckgespenst des Alters

Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.“ (aus: Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil)

Laut der Deutschen Alzheimergesellschaft leben hierzulande derzeit etwa 1,5 Millionen Demenzkranke, jährlich kommen mehr als 300.000 neue Fälle hinzu. Eine Demenzerkrankung bezeichnet man oft auch als „ Schreckgespenst“ des Alters. Aber was genau ist eigentlich eine Demenz: Wikipedia definiert Demenz, lat. dementia, als zu demens ‚unvernünftig‘, ohne mens, das heißt ohne Verstand oder Denkkraft bzw. Besonnenheit seiend‘. Auch übersetzbar als „Nachlassen der Verstandeskraft“.
Die Demenz ist eine gravierende Störung im Kurzzeitgedächtnis, begleitet von weiteren Defiziten in den Bereichen des Bewußtseins und der Emotionen. Sie entsteht für gewöhnlich schleichend, beginnt also mit Einschränkungen in der Merk- und Lernfähigkeit, erstreckt sich anschließend über weite Teile des Gedächtnisses und betrifft schlußendlich auch das Langzeitgedächtnis. Schwer an Demenz erkrankte Menschen verlieren also im Laufe der Zeit nahezu alle erlernten Fertigkeiten und Fähigkeiten. Demenzkranke benötigen daher in vielen Fällen einen ähnlich großen Pflegeaufwand
wie Kleinstkinder.

Mit einem Anteil von über 60 Prozent ist Alzheimer die häufigste aller Demenzerkrankungen. Sie gehört zu den neurodegenerativen Demenzformen, in deren Verlauf langsam und fortschreitend Nervenzellen zerstört werden.
Die zweithäufigste Demenzform ist die vaskuläre Demenz infolge von Gefäßerkrankungen oder Durchblutungsstörungen des Gehirns, z. B. arteriosklerotischen Veränderungen, verursacht auch durch Diabetes mellitus.

Maria S.

Ich erinnere mich aus meinem Praxisalltag an eine meiner Patientinnen. Frau Maria S., 74 Jahre und seit ca. 15 Jahren erkrankt an Diabetes mellitus-Typ-2. Die ersten Anzeichen glichen eher einer beginnenden Vergeßlichkeit im Alter. Sie vergaß immer öfter ihr Tagebuch, hielt sich plötzlich nicht mehr an Absprachen, obwohl sie in der Vergangenheit immer sehr zuverlässig war. Sie zeigte Anzeichen von leichten depressiven Episoden und gab nach und nach ihr geliebtes Hobby, das Malen, auf. Auch besuchte sie immer weniger ihre Enkel oder lies Besuch zu.

Symbolbild: Fitte Männer im hohen Alter

Bei den darauffolgenden Terminen kam nun ihre Tochter mit zu den Kontrollterminen, denn sie traute sich nicht mehr allein Auto zu fahren. Sie wurde zunehmend orientierungslos. Ihre Tochter beschrieb sie immer öfter als gereizt und aggressiv. Bis zu diesem Zeitpunkt behandelte Frau Maria S. ihren Diabetesmit Hilfe einer intensivierten Insulintherapie mit festem Schema, die sie eigenständig durchführte. Ihr HbA1C lag in den letzten Jahren im Durchschnitt meist um 6,5 - 7,0 %. Sie war gut geschult und kannte die Ursachen und Symptome einer Unterzuckerung. Doch die letzten beiden Kontrollen zeigten einen deutlichen HbA1C Anstieg auf aktuell 8,9 %. Auch zeigten sich immer häufiger Unterzuckerungen bis 45 mg/dl bzw. 2,5 mmol/l. Frau Maria S. zeigte ganz deutliche Anzeichen einer beginnenden Demenz.

Statistiken

Statistisch gesehen sind Frauen häufiger betroffen, an einer Altersdemenz zu erkranken, zumal wir ja auch die Angewohnheit haben unsere Männer zu überleben. Diabetes und Demenz sind häufig Erkrankungen des höheren Lebensalters.

Während im Alter von 60 Jahren etwa 1,2 % der Bevölkerung betroffen sind, sind es von den über 90-Jährigen bereits 35 %. Angesichts der Verdoppelung des relativen Anteils der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in den nächsten 30 Jahren, ist entsprechend auch mit einer Verdoppelung der absoluten Zahl Demenzkranker in diesem Zeitraum zu rechnen.

Generationen im Gespräch

Im Vergleich zu Stoffwechselgesunden unterliegen Menschen mit Diabetes-Typ-2 einem bis zu vierfach erhöhten Risiko für eine gefäßbedingte Demenz. Das Risiko für eine Altersdemenz ist doppelt so hoch.

Eine aktuelle Studie zeigt sogar, daß Personen, die bereits vor dem 65. Lebensjahr an Diabetes und Depressionen erkrankten, bis zu fünfmal eher dement werden als Gleichaltrige mit normalem Zuckerstoffwechsel und sonnigerem Gemüt. Besorgniserregend wie ich finde, zumal die Menschen heutzutage immer früher an Diabetes mellitus- Typ-2 erkranken.

Ursachen der Demenz

Eine Ursache ist ein langfristig erhöhter Blutzuckerspiegel. Er schädigt bekanntlich die Gefäße – etwa in den Augen, in den Füßen und auch im Gehirn.

Aber auch die häufigen Begleiterkrankungen eines Typ-2-Diabetes wie Bluthochdruck, Adipositas, Fettstoffwechselstörungen oder Depression spielen eine Rolle. Angesichts der relativ kleinen Anzahl von Menschen mit Typ-1-Diabetes im Alter über 65 Jahre liegen derzeit keine verläßlichen Daten für demenzielle Erkrankungen für diese Patientengruppe vor, jedoch scheinen Patienten mit Typ-1-Diabetes weniger betroffen zu sein als Patienten mit Typ-2-Diabetes.

Eine bevölkerungsbasierte Studie aus Australien zeigte, daß beide Demenzformen bei Patienten mit Diabetes zu einem früheren Zeitpunkt auftreten als bei Patienten ohne Diabetes. Das Risiko hängt mit der Dauer des Diabetes zusammen und war bei der vaskulären Demenz deutlicher ausgeprägt. Sie trat bei Studienteilnehmern, die seit mindestens 15 Jahren an Diabetes litten, im Durchschnitt 5,7 Jahre früher auf als bei Studienteilnehmern ohne Diabetes. Also kommt demnach die Demenz bei meiner Patientin 5,7 Jahre zu früh.

Gefahren einer Demenzerkrankung für Diabetiker

Menschen die gleichzeitig von Demenz und Diabetes betroffen sind, tragen ein erhöhtes Risiko für schwere Unterzuckerungen (Blutzuckerwerte < 60 mg/dl bzw. 3,3 mmol/l).

alte Menschen im Park

Normalerweise werden die Symptome einer Unterzuckerung, wie schwitzen oder zittern, frühzeitig erkannt und vor allem gespürt und können dann auch eigenständig behandelt werden.

Deutlich schwieriger wird es für Patienten mit einer Demenzerkrankung, die ihre Medikamente und ihre Ernährung nicht mehr richtig aufeinander abstimmen und die Anzeichen einer Unterzuckerung nicht mehr deuten können. Falsch gespritzte Insulinmengen, Über- oder Unterschätzungen der Kohlenhydratmenge einer Mahlzeit können die Folge sein. Auch kann es passieren, daß die Patienten vergessen nach der Insulininjektion etwas zu essen. Schwere Unterzuckerungen stellen damit ein erhöhtes Risiko für diese Patienten dar, scheinen aber auch (nach einer aktuellen Studie) das bereits beeinträchtigte Gehirn weiter zu schädigen und das Fortschreiten der Demenz zu beschleunigen.

Daher ist es besonders wichtig die Therapie bei einer Demenzerkrankung und Diabetes mellitus adäquat aufeinander abzustimmen.

Diagnose Demenz

Auch ein geschultes Auge erkennt nicht immer gleich, ob eine Demenzerkrankung vorliegt. Sogenannte Screening-Instrumente ermöglichen dem Mediziner oder dem medizinischen Fachpersonal Einblick in die geistige Leistungsfähigkeit des Patienten. Solche Tests können bereits beim Hausarzt im Rahmen eines sogenannten geriatrischen Basisassessments durchgeführt werden. Dieses umfasst verschiedene Fragen und Tests um vorhandene Schwierigkeiten, wie typische Alterssyndrome (wie Inkontinenz, Instabilität), rechtzeitig zu erkennen und damit eine möglichst lange Selbständigkeit zu erhalten. Auch eine sogenannte Prüfliste kann helfen herauszufinden, in wie weit der Patient in der Lage ist eigenverantwortlich zu handeln.

Diabetestherapie bei Demenz

Zeigen sich deutliche Probleme in der selbständigen Umsetzung der Behandlung ist zu überlegen, welche Hilfsmöglichkeiten eingesetzt werden können. Meist sind es die Angehörigen oder medizinische Pflegedienste, die dann zur Mithilfe gebeten werden.

Prüfliste zur Selbstständigkeit und sicheren Umsetzung der Diabetesbehandlung bei Demenz

Abfragende/zu überprüfende Themen Kenntnisse bei Patient und/oder Hilfsperson bzw. Pflegekraft

Gedächttnisleistung (Anamnese, geriatrisches Assessment)

Orientierung (zeitlich, situativ)

Sofern kognitive Defizite bestehen - sind diese dem Patienten bewusst?

Werden diese Defizite durch Hilfspersonen oder andere Maßnahmen ausgeglichen?

Nahrungsaufnahme (Wie regelmäßig? Wer kocht? Wer kauft ein?) Ist der Kohlenhydratgehalt der üblich konsumierten Nahrungsmittel und Getränke bekannt?
Bewegung (Wie viel? Wie oft?)

Sind Maßnahmen zur Vermeidung einer Hypoglykämie bekannt (besonders bei Medikamenten mit Hypglykämie-Risiko)?

Werden diese durchgeführt?

Tabletteneinnahme/Insuininjektion (Wie regelmäßig? Ist die Handhabung korrekt?)

Sind die Zeiten zur Einnahme der oralen Antidiabetika bekannt und ist die Einnahme sichergestellt?

Werden die Insulinijektionen korrekt durchgeführt?

Auftreten von Hypoglymkämien (Symptome? Häufigkeit? Gegenmaßnahmen?) Sind Symptome, Behandlung sowie Vermeidung von Hypoglyämien bekannt?
Blutglukosemessung (Häufigkeit? Korrekte Handhabung) Wird die Blutglukosemessung korrekt durchgeführt?
Schulungsdefizite (Bei Patient, Angehörigen oder Pflegekraft?) Ggf. Schulung von Patient und Angehörigen, Fortbildung für Pflegekräfte

Prüfliste Selbstständigkeit bzw. Umsetzung der Diabetes-Behandlung. (Nach Thieme E-Journals Diabetes aktuell 2016; 14(05): 234-239)

Es ist dabei nicht einfach einem Menschen, der immer für sich und seine Familie gesorgt hat, klar zu machen, daß es ab jetzt besser ist, wenn der Ehepartner die Medikamente richtet und das Insulinspritzen übernimmt. Oder sogar ein Pflegedienst dies übernehmen soll. Menschen die den geistlichen Verfall spüren und dadurch ängstlich und verunsichert sind, sollen nun auch noch fremde Personen in ihre Wohnung lassen. Es lässt sich nicht immer sofort eine passende Lösung finden. Das liegt oftmals daran, dass es der Betroffene nicht zulässt, oder dass keine direkte familiäre Hilfe zur Verfügung steht. Gerade aus solchen Gründen ist es wichtig das Therapieziel des Patienten zu hinterfragen und individuell anzupassen.

Auch bei meiner Patientin standen nun solche Entscheidungen im Raum. Die Tochter machte sich zunehmend Sorgen um die Eigenständigkeit ihrer Mutter, bezogen auf die intensivierte Insulintherapie. Immer häufiger zeigten sich deutliche Unterzuckerungen, die sie bislang noch selbst behandeln konnte. Oft vergaß sie das Essen nach einer Insulingabe oder aß aus Appetitlosigkeit einfach zu wenig.

Der Ehemann war bereits vor einigen Jahren verstorben und die Tochter lebt nicht mit im Haus. Somit entschied man sich gemeinsam für einen ambulanten Pflegedienst, der über die entsprechenden Kenntnisse verfügt. Sie übernehmen zukünftig die Insulininjektion zu den Mahlzeiten und die basale Insulingabe zur Nacht. Das Blutzuckermessen macht sie weiterhin selbst.

Im Laufe einer Demenz können sich der Appetit und damit die Essgewohnheiten sehr verändern. Auch steigt mit zunehmender Demenz der Bewegungsdrang. Beides kann zu einem ungewollten Gewichtsverlust führen, welcher ungünstig für die Therapieeinstellung ist. Es erhöht das Risiko für Unterzuckerung und reduziert die Lebenserwartung der an Demenz erkrankten Patienten. Diabetologische Diätempfehlungen sind da eher kontraproduktiv, da sie die Nahrungsvielfalt zusätzlich einschränken. Empfehlenswert sind, mehrere kleine Portionen über den Tag verteilt anzubieten. Auch das Verlangen nach „Süßem„ kann stark ansteigen und diesem sollte auf jeden Fall nachgegeben werden. Auch das Bereitstellen von süßen Getränken kann ggf. die Nährstoffzufuhr weiter verbessern. 

Opa mit Enkel und Tochter

Wichtig ist ein vielseitiger und ausgewogener Speiseplan. Um die Diabetestherapie zu verbessern und auf den neuen Alltag mit der Demenzerkrankung anzupassen, kann es helfen, wenn Angehörige oder Pflegepersonal die eingenommenen Mahlzeiten dokumentieren.

Je nach geistiger Situation ist zu überlegen, welche diabetologischen Inhalte vom Patienten weiterhin selbständig durchführbar sind. Es gibt bereits spezielle Schulungsprogramme für geriatrische Diabetiker, welche auch die Angehörigen mit einbeziehen.

Grundsätzlich gilt für die Behandlung des Diabetes mellitus bei einer bestehenden Demenz, dass weder der Betroffene noch deren Betreuer überfordert werden sollte. Wichtig ist in erster Linie Unterzuckerungen sowie auch Überzuckerungen zu vermeiden. Denn auch ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerwert >250 mg/dl bzw. >13,9 mmol/l kann die Symptome einer Demenz verschlechtern. Ein Langzeit-Blutzucker (HbA1C) von ca. 8 % ist anzustreben. Die Therapie muss individuell auf die Beeinträchtigungen, die Lebensgewohnheiten und die soziale Situation abgestimmt werden.

Daher sehen viele Experten den HbA1C-Wert als zweitrangig, denn im Vordergrund steht ganz klar die Förderung der Selbständigkeit und der Erhalt der Lebensqualität unter Berücksichtigung der Vermeidung von lebensbeeinträchtigenden Situationenwie Unter- oder Überzuckerungen.

Dies alles kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten gut und kenntnisreich zusammenarbeiten.

 

Autorin

Autorin Sonja VogelSonja Vogel, Diabetesberaterin DDG: Seit Beginn meines Berufslebens engagiere ich mich für Menschen jeden Alters, die an Diabetes Typ 1 oder auch Typ 2 erkrankt sind. Als ausgebildete Diabetesberaterin DDG bin ich seit 2003 in verschiedenen Kliniken und Praxen tätig.  Im Zuge der Digitalisierung arbeite ich darüber hinaus freiberuflich für namenhafte Insulinpumpen- und CGM-Hersteller. Neu hinzugekommen ist seit 2019 meine Tätigkeit als Coach für das Startup mySugr. Zudem schlägt mein Herz für ein Diabetesprojekt in Togo, für das ich mich privat einsetze und mit gespendeten Medikamenten und Insulinen von Deutschland aus versorge. 2018 konnte ich sogar persönlich nach Togo reisen und dort Menschen mit Diabetes mit meinem Wissen und meinen Erfahrungen unterstützen.

Quellenangaben: 
Diabetes aktuell 2016 „Diabetes und Demenz“; 14(05):234-239 
https://de.wikipedia.org/wiki/Demenz
S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes mellitus, DDG 2013 
Deutscher-Ethikrat_Demenz-und-Selbstbestimmung_ Stellungnahme.pdf2012
Jama psychiatry 2015
American Journal of Epidemiology 2013, online 28. März

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